Lathen. 100 Jahre ist das schwarzgraue Album alt, das Carl Rieken aus Lathen in den Händen hält. Vom Buchdeckel blickt ein in Pose gesetzter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg mit verschränkten Armen und ernster Miene auf den Betrachter herab. Über ihm prangt am schwarzen Band mit weißen Seitenstreifen das Eiserne Kreuz in Schwarz und Silber.

Es ist das Album seiner vor 23 Jahren verstorbenen Mutter Maria Rieken, geborene Kerkhoff. Gefüllt ist es mit etwa 200 Feldpostkarten und Bildern, die in der Zeit des Ersten Weltkriegs an sie und ihre Familie gerichtet wurden.

Die Apothekerstochter Maria Kerkhoff erlebte die Kriegswirren in ihrer Jugendzeit – sie war 17 Jahre alt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Im Mai 1924 heiratete sie den Apotheker Josef Rieken. Das Album und die damit verbundenen Erinnerungen hat die Lathenerin wie einen Schatz gehütet. Waren doch Feldpostbriefe oftmals die einzige Möglichkeit für Soldaten an der Front, mit ihren Angehörigen oder Freunden in der Heimat in Kontakt zu bleiben und ihnen ein Lebenszeichen zu schicken.

Die mit Bleistift und in Sütterlinschrift verfassten Zeilen an seine Mutter sind auch für Carl Rieken, der wie sein Großvater und sein Vater Apotheker ist, zum Teil nur schwer lesbar. Manche Karten sind bis zum letzten Rand voll beschrieben und geben einen Einblick in den Alltag an der Front. Andere wiederum enthalten nur einen kurzen Gruß, verbunden mit dem Dank für eine erhaltene Paketsendung. „Ein kleines Andenken – Meine Wohnung und Unterstand drei Meter unter der Erde – Euer dankbarer Clemens“, schreibt ein Verwandter. Auf der Vorderseite zwei junge Soldaten, die vor einem mit Holzstämmen ausgekleideten höhlenartigen Eingang posieren und dabei lässig in die Kamera schauen.

Die schon leicht vergilbten Feldpostkarten sind fast alle in Schwarz-Weiß gehalten. Einige von ihnen zeigen junge Soldaten, die für ein Gruppenbild posieren. Während Carl Rieken sie betrachtet, entdeckt er hier und da das Gesicht eines Verwandten oder Bekannten, so zum Beispiel die Gebrüder Schlichter aus Lathen. Ein Großteil der Karten stammt aus Frankreich – aus Orten wie La Bassée, Verdun, Herlies oder Illies (Lille). Sie zeigen Aufnahmen von Kriegsschauplätzen. Zerschossene Kirchen und zerstörte Ortschaften, Männer, die vor den Trümmern eines abgestürzten englischen Flugzeugs stehen oder einen zerstörten Panzer in Augenschein nehmen, machen die Verwüstung und Schrecken des Krieges sichtbar. „Man sieht teilweise sogar Tote auf dem Schlachtfeld liegen“, bemerkt Carl Rieken beim näheren Hinschauen.

Unter den Feldpostkarten befinden sich ferner einige Künstlerkarten mit farbigen Gemälden, die von Treue und Kameradschaft der Soldaten bis hin zum einsamen Tod erzählen. Auf zwei Postkarten ist das Porträt des als Held verehrten Herforder Kapitänleutnants Otto Weddigen abgebildet. Ihm gelang es am 22. September 1914, mit dem Unterseeboot U9 gleich drei englische Panzerkreuzer an einem Tag zu versenken.

„Vom Krieg hat meine Mutter nie erzählt“, berichtet ihr 85-jähriger Sohn. Erst nach ihrem Tod habe er von der Existenz des Albums erfahren.

Wie seine Ehefrau Margret hat auch Carl Rieken den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Die Ereignisse zwischen 1939 und 1945 beschäftigen ihn eigenen Angaben zufolge noch heute, und so zeigt er eine Kiste, die gefüllt ist mit originalen 16-Millimeter-Kriegsfilmrollen. Zu den Titeln gehören unter anderem „Heldengedenktag 1935“, „Deutschland wieder Wehrmacht und frei“ sowie „Unsere Artillerie“ oder „Krieger im Manöver“.

Quelle: http://www.noz.de/lokales/lathen/artikel/532817/lathener-carl-rieken-hutet-album-mit-feldpostbriefen