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Erna de Vries hat in jungen Jahren Schreckliches erlebt. Seit etwa 20 Jahren reist sie durch Deutschland und berichtet in Schulen und anderen Institutionen davon. Warum tut sich eine fast 90-jährige Frau das an, in Vorträgen immer wieder das erlebte Leid Revue passieren zu lassen?
Weil das der Auftrag ist, den ihre Mutter ihr im Konzentrationslager Auschwitz mitgegeben hat: „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.“ Das waren die letzten Worte, die die Jüdin von ihrer Mutter gehört hat, bevor die beiden endgültig getrennt wurden. Die Mutter wurde in Auschwitz ermordet, Erna überlebte. Aus dem Buch „Der Auftrag meiner Mutter“, das 2011 im Metropol Verlag erschienen ist, hat de Vries in Lingen gelesen.
Der Vorsitzende des Forums Juden-Christen Heribert Lange begrüßte die Zeitzeugin in der jüdischen Schule, in der auch der kleinste Platz besetzt war. Gut 50 Zuhörer waren gekommen, um die Lesung teilweise stehend oder auf dem Boden hockend atemlos zu hören. „Nur die Erinnerung an die humanitäre Katastrophe und die Völkermorde des 20. Jahrhunderts kann helfen, die Menschenwürde und Menschenrechte als staatliches Prinzip zu bewahren. Erna de Vries widmet sich dieser Erinnerungsarbeit“, leitete Lange die Lesung ein.
De Vries begann schließlich mit dem Kapitel „November 1938: Abruptes Ende der Kindheit“. Es handelt davon, wie sie als 15-Jährige den Tag erlebt hat, an dem nach der Reichspogromnacht ihr Elternhaus in Kaiserslautern völlig verwüstet wurde. Wie demütigend die Situation für sie, ihre Mutter und ihren vollkommen verängstigten kleinen Vetter gewesen sein muss, können die Zuhörer nur erahnen. De Vries erzählt, wie später ihre Mutter nach Auschwitz transportiert wurde, sie aber nicht mitdurfte. De Vries stammt aus einer im Nazi-Jargon so genannten Mischehe. Ihr damals schon verstorbener Vater war Christ, und somit sollte sie als „Halbjüdin“ (ebenfalls ein Begriff aus dem Nazi-Jargon, gegen den sich de Vries verwahrt) nicht nach Auschwitz deportiert werden. Da sie ihre Mutter aber in keinem Falle alleine lassen wollte, setzte sie sich durch.
Im Weiteren erfuhren die Zuhörer von de Vries’ Nacht im „Todesblock 25“, den sicheren Tod im Gas vor Augen, von der glücklichen Fügung, in letzter Minute für eine „kriegswichtige Produktion“ nach Ravensbrück abtransportiert zu werden. Und schließlich vom furchtbaren Todesmarsch und der unerwarteten Befreiung durch die Amerikaner. Die sichtlich betroffenen Zuhörer in der jüdischen Schule kamen Langes Aufforderung, der Erzählerin Fragen zu stellen, nach kurzem Zögern umso lebhafter nach. Die Fragen und Diskussionsbeiträge könnte man grob in drei Kategorien aufteilen: während des Nationalsozialismus, nach dem Krieg und Neonazis.
Einige der Zuhörer interessierten vor allem de Vries’ Empfindungen und Detailfragen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Viele Fragen zielten auch auf das Leben nach 1945 in Deutschland ab, wie das für jemanden, der derart Grauenvolles erlebt hat, überhaupt noch möglich sei. De Vries betonte mehrfach, ihr sei das Urvertrauen genommen worden. „Einfach auf Menschen zugehen, das kann ich nicht mehr.“ Dennoch gehe sie danach, ob ein Mensch anständig sei, und nicht, welcher Nationalität er angehöre. Der Gedanke, nach Israel auszuwandern, hätte in den 70er-Jahren bereits konkrete Formen angenommen, aber ihr Mann brachte es dann doch nicht übers Herz, seine Heimat Lathen zu verlassen.
Und ein drittes Thema bewegte die Zuhörer: Neonazis. Das brandaktuelle Urteil über den rechtsradikalen Musiker aus Meppen führte vor Augen, dass dieses Thema auch im Emsland eine Rolle spiele. Lange betonte noch einmal, dass auch gerade vor diesem Hintergrund die Erinnerungsarbeit so wichtig sei. Und de Vries schloss mit den Worten: „Es tut mir wohl zu sehen, wie viel Interesse besteht. Und ich hoffe, Sie haben etwas davon mitgenommen.“
Das Buch „Der Auftrag meiner Mutter“ von Erna de Vries (ISBN 3863310454) ist für 14 Euro erhältlich. (Ems-Zeitung vom 24.10.2012, Cristiane Adam)