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Zeitzeugin Erna de Vries erzählt seit 1997, wie sie den Holocaust überlebte. Jeden Auftritt notierte sie. Mit ihrer Mutter ging de Vries in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau - sie überlebte, ihre Mutter nicht. Auf dem Arm trägt de Vries immer noch die Häftlingsnummer. Foto: Dirk Fisser (2)/Hermann-Josef Mammes

Zeitzeugin Erna de Vries erzählt seit 1997, wie sie den Holocaust überlebte. Jeden Auftritt notierte sie. Mit ihrer Mutter ging de Vries in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – sie überlebte, ihre Mutter nicht. Auf dem Arm trägt de Vries immer noch die Häftlingsnummer. Foto: Dirk Fisser (2)/Hermann-Josef Mammes

Erna de Vries erzählt diese eine Geschichte immer und immer wieder. Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, es ist eine Geschichte voller Schmerzen und Hass. Es ist die Geschichte ihres Lebens.
Die kleinen gelben Zettel, sie sind weg. Unruhig läuft Erna de Vries durch ihre Wohnung in Lathen, sucht zwischen Zeitungsstapeln, in Schubladen. Vergeblich. Die Zettel bleiben verschwunden. „Wo können die bloß sein? Das ist mir so wichtig.
Verstehen Sie das?“ Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht. Denn Erna de Vries hat in ihrem Leben schon so viel bedeutendere Dinge verloren als kleine gelbe Zettel. Ihre Mutter zum Beispiel, die im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im Gas starb. Oder ihren Ehemann im Jahr 1981, mit dem sie die Gewissheit teilte, im Gegensatz zu Millionen anderen den Massenmord an den Juden überlebt zu haben. Was sind da schon kleine gelbe Zettel?
Ein Lebenswerk. Seit 1997 hat de Vries jeden ihrer Vorträge notiert: Datum, Ort, Zahl der Zuhörer. Den Anfang machte Kaiserslautern. Hier kam sie als Erna Korn am 21. Oktober 1923 zur Welt – heute vor 90 Jahren. Gerade einmal 15 war sie, als sie miterleben musste, wie Nazis in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November die gemeinsame Wohnung zerstörten. Mit ihrer Mutter war sie an das Grab des verstorbenen Vaters geflüchtet, kehrte aber dann doch zum Wohnhaus zurück. „Ich stand unten an der Straße und hörte es krachen und splittern.“
In diese Stadt kam Erna de Vries, die 1947 den Nachnamen ihres Ehemanns Josef angenommen hatte, 1997 zurück. An der Volkshochschule erzählte sie zum ersten Mal öffentlich über das, was sie nach dem Abend erlebte, an dem die Wohnung zertrümmert wurde. „Das ist nicht nur meine Geschichte, sondern die Geschichte von Millionen, die sie nicht mehr erzählen können.“
Es sind Sätze wie diese, die nach den Vorträgen von Erna de Vries im Gedächtnis hängen bleiben.
Und Vorträge hat sie seit 1997 Hunderte gehalten. Überwiegend an Schulen im nordwestdeutschen Raum. Immer und immer wieder hat sie von Hass, Schmerzen und Verlust gesprochen. Und dem Auftrag ihrer Mutter: „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.“ Kurz nachdem Jeanette Korn das am 8. November 1943 sagte, wurde sie ins Gas geschickt.
Auch Tochter Erna stand in der Schlange zur Gaskammer. Doch ein SS-Wachmann zog sie heraus. „Zehn Minuten haben gefehlt – alle anderen sind ins Gas gegangen.“ Als sogenannte Halbjüdin kam sie von Auschwitz in das Lager Ravensbrück, wo sie Kriegsmaterial für den Endsieg produzieren sollte. „Auf Befehl von Heinrich Himmler. Stellen Sie sich das mal vor!“
Eine Stunde und 45 Minuten dauert es, wenn de Vries ihre Geschichte erzählt. Satz für Satz und Wort für Wort haben sich über die Jahre gefunden. Einmal, am 4. April dieses Jahres, hätte sie fastDie Geschichte ihres Lebens; Holocaust-Überlebende Erna de Vries aus Lathen wird heute 90 Jahre alt einen Vortrag in Dörpen absagen müssen.
60 Schüler und Lehrer hörten ihr zu. Was keiner ahnte, nicht einmal sie selbst: Wenige Stunden zuvor hatte Erna de Vries einen Schlaganfall erlitten.
Sechs Monate später hat sich die dreifache Mutter und sechsfache Großmutter fast komplett wieder erholt. „Die Finger sind ein wenig taub, aber sonst ist alles gut.“ Immer noch lebt sie in Lathen – der emsländischen Heimat ihres 1981 verstorbenen Ehemannes Josef. 1947 heirateten die beiden. Es war die zweite Ehe für Josef de Vries. Seine erste Frau und ein Kind waren in Konzentrationslagern umgekommen. Er selbst überstand sechs Jahre in den Vernichtungslagern.
Einmal, erzählt Erna de Vries, standen beide kurz davor, Deutschland zu verlassen. In Israel warteten die Kinder auf ihre Eltern, das Haus in der Heimat war bereits verkauft. „Als es dann aber so weit war, sagte mein Mann: ,Ich kann nicht.‘“
Sie hat es ihm verziehen. „Er war eben Emsländer mit Leib und Seele.“ Wären sie ausgewandert, de Vries hätte wohl nie begonnen, vor deutschen Schülern die Geschichte ihres Lebens zu erzählen.
Nach der Geburtstagsfeier am Montag will sie damit weitermachen. Der Kalender ist für den November bereits gut gefüllt. Nach jedem Termin wird sie notieren: Datum, Ort, Anzahl der Zuhörer. Wenn sie denn ihre Zettel wiederfindet.
Ihre Tochter betritt den Raum, ruft: „Ich hab sie“ und hält ihrer Mutter die Unterlagen entgegen, die aus Versehen im Papiermüll gelandet waren. Zwölf Zettel, eng beschrieben. Erna de Vries schlägt die Hände zusammen. „Du bist ein Schatz!“ Sie will noch viele dieser kleinen gelben Zettel ausfüllen.
Es ist ihr Lebenswerk.
Die Geschichte ihres Lebens; Holocaust-Überlebende Erna de Vries aus Lathen wird heute 90 Jahre alt Aber was kommt nach ihr? „Ich hoffe, dass es junge Menschen in die Hand nehmen und weitererzählen“, sagt de Vries. Und wird nachdenklich: „Aber das ist natürlich etwas anderes, als wenn es eine Zeitzeugin erzählt.“ (Ems-Zeitung vom 21.10.2013, Lathen, Dirk Fisser)